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Achtung! Achtung! Hier ist Gleiwitz

Am 31. August 1939 um 20 Uhr drang eine Gruppe bewaffneter SS-Männer in Zivil – schlesische Aufständische vortäuschend – in die deutsche Rundfunkstation in Gleiwitz ein. Sie sollten die Nachricht in die Welt schicken, dass der Sender Gleiwitz von Polen besetzt worden war. Diese Nachricht ging zwar nicht über den Äther, aber die Propaganda des Dritten Reichs gab wenige Stunden später offizielle Pressemitteilungen auf, dass Polen soeben durch provokative Grenzzwischenfälle einen Konflikt in Oberschlesien begonnen hatte. Unter diesem Vorwand fielen die Deutschen am nächsten Tag in Polen ein.

70 Jahre nach dem Ereignis, am 30. August 2009, hat auf dem Gelände der Gleiwitzer Rundfunkstation eine Gedenkfeier  stattgefunden. Es ertönte die „Missa pro Pace“ von Wojciech Kilar. Eine Ergänzung des Abends war die erstmalige Erleuchtung des Turms und Umgebung der Rundfunkstation in Gleiwitz, die seitdem zum europäischen Symbol des „Lichts für den Frieden“ geworden ist. Den Charakter eines europäischen „Ortes des Lichts“ verleiht dem neuen Image der Rundfunkstation der märchenhafte Glanz von mehr als zehntausend Leuchtdioden. Die Dioden sind computergesteuert und verändern Farbe und Intensität. Jetzt hat Gleiwitz seinen „eigenen Eiffelturm“, vielleicht nicht so einen berühmten, aber einen für das europäische Kulturerbe viel wichtigeren. Die Wiederbelebung des stark vernachlässigten historischen Objekts begann im Frühling und kostete die Stadt Gleiwitz mehr als 7 Mio. Zloty. Um den Turm herum wurde ein Park mit Spazierwegen angelegt, es wurden ein Springbrunnen und ein Zaun aus Hartglas gebaut. Mit einer Investition von 1,7 Mio. Zloty ist auch das Technikgebäude der Rundfunkstation renoviert worden, in dem sich momentan das Museum der Rundfunkgeschichte und Medienkunst befindet, hier werden Unterrichtsstunden erteilt. Den Gebäudekomplex der Gleiwitzer Rundfunkstation baute in den Jahren 1934-35 die deutsche Firma Lorenz. Der 111 Meter hohe Sendeturm, gefertigt aus Lärchenholz, ist das höchste Holzgebäude der Welt. Er verblüfft mit seiner kunstvollen Fertigung und bautechnischen Genialität.

Hier fing alles an

Die Propaganda wies Polen die Schuld für den Beginn des Konfliktes zu, was Deutschland Sicherheit und militärische Neutralität von Seiten Frankreichs und Englands gewähren sollte. Das Gleiwitzer Spektakel richtete sich ebenso an den deutschen Generalstab, Stalin und die Weltöffentlichkeit: Die Polen sind schuld daran, allesamt Provokateure… Die Provokation misslang, weil die Angreifer, die sich auf dem Gelände nicht auskannten, in das falsche Gebäde eingedrungen waren.

Die Gleiwitzer Rundfunkstation war in zwei Gebäuden untergebracht, die 4 km voneinander entfernt lagen und via Post durch ein unterirdisches Fernmeldekabel verbunden waren (Rundfunkstraße 2 und Tarnowitzer Landstraße). In einem der Sendergebäude befand sich das Studio des Senders – mit Mikrofonen –, im zweiten befand sich nur das Gewittermikrofon. Die Angreifer wussten dies nicht. Sie hielten sich in Richtung „des Hohen da“. Zur damaligen Zeit mussten die Antennen in weiter Entfernung von den Mikrofonen aufgestellt werden, die Sender wurden in der Nähe der Antenne installiert um Rauschen, Störungen und Rückkoppelungen zu verhindern. Mit Hilfe des Gewittermikrofons gelang es den Deutschen lediglich die nächste Umgebung mit den Worten: „Achtung! Achtung! Hier ist Gleiwitz. Der Sender befindet sich in polnischer Hand…“ zu erreichen. Zwar las der Sprecher weiter, aber das konnte keiner mehr hören. In den Empfängern blieb nur noch Rauschen und Knacken – technisches Versagen, dessen Grund man nie aufklären konnte. Obwohl die Welt den provokativen Text nicht gehört hatte, gaben deutsche Presseagenturen aus Berlin und Breslau zwei Stunden nach dem Angriff Mitteilungen über den Beginn des Konfliktes in Oberschlesien auf. Den Deutschen nach publizierten alle Zeitungen, Radios und telegrafischen Agenturen auf der ganzen Welt diese Nachricht. Hier ein Fragment der Meldung aus Breslau: „Am Donnerstag um ca. 20 Uhr wurde der Sender Gleiwitz durch einen polnischen Überfall besetzt. Die Polen drangen mit Gewalt in den Sender ein. Der Überfall auf den Sender Gleiwitz war ein deutliches Signal für den allgemeinen Angriff polnischer Freiwilliger auf das deutsche Territorium…“ Ein Fragment, das in Berlin aufgegeben wurde: „Polnische Aufständische haben sich durch das Mikrofon als Polnische Rundfunkstation Gleiwitz bezeichnet und hielten eine Ansprache im Namen der polnischen Abteilung oberschlesischer Aufständischer. Sie erklärten, dass sich Stadt und Rundfunkstation Gleiwitz in polnischer Hand befinden. Den deutschen Staat überhäuften sie mit ordinären Beschimpfungen, man sprach von einem polnischen Breslau und einem polnischen Danzig…“

Nach der Provokation formulierten und veröffentlichten die Deutschen im Radio ihre berühmten „16 Punkte – gemäßigte Froderungen“ gegenüber Polen. Hitlers Worte: „Ich brauchte ein Alibi, vor allem dem deutschen Volk genüber, um ihm zu zeigen, dass ich alles getan hatte, den Frieden zu erhalten.“ Und in der Tat: ein gewöhnlicher Deutscher verstand nicht, warum Polen einen solchen großmütigen Vorschlag ablehnte und den Krieg begann.

Die Aktion leitete Alfred Helmut Naujocks, Offizier des SS-Geheimdienstes. Erst seine Aussagen im Nürnberger Prozess deckten auf, dass diese Ereignisse auf Befehl Hitlers fingiert worden waren. Die Gleiwitzer Provokation änderte den Verlauf der Geschichte Europas und der Welt. Noch am selben Abend, ein paar Minuten nach dem Überfall, brachte die Gestapo die Leiche des Schlesier Franciszek Honiok, der einen Tag vorher verhaftet worden war und hier als „Konserve“ hergebracht wurde, auf das Gelände des Rundfunksenders. Dieser Schlesische Aufständische war das erste Opfer des Zweiten Weltkriegs.

Im Dienst des Volkes und der Propaganda

Ein paar Jahrzehnte lang nach dem Krieg konnte man die Rundfunkstation nur aus der Entfernung von ein paar hundert Metern betrachten, hinter einem Zaun. Erneut in Betrieb gesetzt wurde sie von Umsiedlern aus dem Osten, die nach Gleiwitz kamen: Ingenieure vom Polnischen Radio Lemberg. Der feierliche Beginn der Programmsendung des Polnischen Radios Kattowitz fand am 6. März 1949 statt. Nach dem Krieg diente die Radiostation nicht nur als Rundfunksender: die Zentralverwaltung der Rundfunkstation nutzte sie ebenso als Störer des fremden Propagandasenders Radio Freies Europa und anderer ausländischer Stationen. Durch eine kleine, erhaltene Notiz, die der Hausmeister Andrzej Jarczewski vor ein paar Jahren durch Zufall unter Sperrholz in einer Schreibtischschublade fand, wissen wir, dass am 21. Januar 1952 von 20.15 bis 20.30 Uhr zuerst der Vatikan, dann Belgrad und danach irgendeine deutsche Meldung gestört wurden. Ab 1958 wurden hier illegal, unter strenger Geheimhaltung, Nachahmungen von ausländischen Rundfunksendern gebaut. Dies nannte sich „Anti-Importproduktion“, die darauf beruhte, westliches geistiges Eigentum zu klauen, Kopien der ausländischen Geräte anzufertigen und diese dann als polnisch zu verkaufen.

Der Sender hörte 1962 auf zu senden. Der Direktor der Zentralverwaltung der Rundfunk- und Fernsehstation Mieczysław Jędrychowski ordnet damals die „Demontage des 10kW-Senders und partielle Demontage des Turms” an, außerdem bittet er den Vizeminister Konrad Kozłowski um die Genehmigung zur Beseitigung des Lorenz-Apparates. Ein Jahr später wird der Sender an die Rundfunksendestation Muranowa Goślina geschickt und ist seitdem spurlos verschwunden. 1963 sollte auch der Turm zerstört werden. Dass er bis heute steht, ist dem Leiter der Rundfunkstation Ludomir Wierzbiański zu verdanken: der sich dem Befehl widersetzte, zum Ministerium für Fernmeldewesen fuhr, seinen Kopf auf den Tisch legte und sagte: „Hauen Sie ihn ab, samt dem Turm!” Auch die Abteilung für Bauwesen, Stadtplanung und Architektur des Stadtratpräsidiums in Gleiwitz stimmte dem Befehl von oben, dem Abriss des Turms, nicht zu. Die örtlichen Beamten verweigerten sich dem Entschluss des Ministers… 1964 wurde die Gleiwitzer Rundfunkstation in die Liste der Baudenkmäler aufgenommen. Im Herbst 2002 kaufte die Selbstverwaltung von Gleiwitz das Objekt für mehr als 700.000 Zloty von der Polnischen Telekom (TP) ab. Die TP beschloss, der Stadt nackte Wände zu übergeben. Man trug alle Möbel heraus, sogar trockene Lärchenholzbalken vom Dachboden, die die Deutschen Bauarbeiter für den Fall einer Renovierung des Turmes hinterlassen hatten. Kubikmeterweise wertvoller Dokumentation ging ab in den Heizungsraum. Einer der Arbeiter, Leszek Karzełek, rettete, was er konnte, und übergab die Unikate später dem heutigen Museum. Dank der Gutwillikeit der neuen Telekom-Leitung Gleiwitz gelang es auch, einen Teil der entwendeten Möbel zurückzuerlangen.

Kopiertes Wissen

Missverständnisse, Verdrehungen, Nachlässigkeiten – 70 Jahre lang begleiten sie die Geschichte der Gleiwitzer Radiostation. Erst 2008 erscheint ein Buch von Andrzej Jarczewski, dem Hausmeister der Radiostation Gleiwitz (Abteilung des Museums in Gleiwitz), der versucht, in Form einer Erzählung zu beschreiben, erklären, dokumentieren, was sich an diesem Ort am 31. August 1939 und danach, bis zum heutigen Tag, ereignet hat. Der Autor versucht auch die Mythen aufzuklären, die in vielen wissenschaftlichen Monografien und Büchern verwurzelt und vervielfältigt sind, er zeigt das Unwissen über die Radiostation in polnischen Lehrbüchern auf. Und was steht in polnischen Büchern? Andrzej Jarczewski beschreibt den Stand polnischer Forschungen über die Radiostation Gleiwitz folgendermaßen: „Null-Wissen, Minus-Wissen, kopiertes Wissen“. Der ausführliche 670-Seiten-Wälzer „Die Geschichte von Gleiwitz“, herausgegeben 1995 von Prof. Jan Drabina, enthält kein einziges Wort (!) über die Provokation, obwohl in diesem Buch alles zu finden ist: von der Steinzeit über die Information, wie viel irgendein Ratsmitglied im Jahre 1970 verdiente.

2008 begann man die Arbeit an einem gemeinsamen, deutsch-polnischen Geschichtslehrbuch, die Radiostation soll darin ausgelassen werden. Die meisten Autoren, die über die Radiostation schreiben, waren selbst nie darin. Sie schreiben einer vom anderen ab und vervielfältigen die Mythen. So schreibt Andrzej Szefer, bzw. schreibt eher ab, was in der 1441. Nummer des „Literarischen Lebens“ fälschlich (aus dem SPIEGEL) übersetzt ist, dass die Angreifer über die Leiter ins „Studio“ gelangten. Es ist bekannt, dass sie gerade ins Rundfunkstudio in der Rundfunkstraße aus Versehen nicht kamen. Über eine Leiter jedoch kletterten sie ganz bestimmt nicht hinauf, sondern sie gingen schlicht und einfach durch die Tür die Treppen hinauf in den Senderaum. In einem Comic, der 2002 in der Kattowitzer „Gazeta Wyborcza“ veröffentlicht wurde, ist auch eine Leiter zu sehen. Die Leiter ist eine Einzelheit. Schlimmer ist, dass polnische Historiker und Lehrer in Schulen die Information weitergeben, dass die Angreifer polnische Uniformen (!) trugen. Dr. Włodzimierz Błaszczyk schreibt in seinem Vorwort zum Buch Prof. Szefers von einer „Gruppe in polnische Uniformen Gekleideter” und dann erfindet (!) der Wissenschaftler buchstäblich seine eigene Version des vermeintlichen Kommunikats. Auch eine große europäische Autorität – Norman Davies – wiederholt in seinem bekannten Buch „Die Spielwiese Gottes – Geschichte Polens”, von ZNAK 1991 herausgegeben, ohne Änderungen in den folgenden Ausgaben (2006) den Schwachsinn: „Den Zweiten Weltkrieg begann Alfred Helmut Naujocks (…). Seine Einheit bestand aus einem Dutzend Verbrecher (…). Nach einem kurzen Gefecht mit den Wachmännern fielen sie in eins der Studios ein und sendeten ein auf Polnisch aufgenommenes patriotisches Programm (…). Ihre Leichen, sorgfältig in blutgetränkte polnische Uniformen gekleidet, wurden an Ort und Stelle gelassen, damit die örtliche Polizei sie finden könne.”

In seinem neuesten Buch „Europa im Krieg 1939-45” (2008) schreibt Norman Davies: den Angriff auf die Rundfunkstation führten „Häftlinge in polnischen Uniformen… von SS-Männern eskortiert” aus. Das Null-Wissen, Minus-Wissen, kopierte Wissen zum Thema der Gleiwitzer Provokation in Polen, Europa und der Welt sollte mit wahrheitsbezogenem Inhalt ausgefüllt werden.
Es ist höchste Zeit.

Teresa Kudyba

Die Autorin ist TV-Produzentin (tress-FILM), Dokumentarfilmer, Publizistin. Sie arbeitet mit dem ARD-Studio Warschau, dem SPIEGEL-TV Hamburg und der „Gazeta Wyborcza“ in Oppeln zusammen.