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Kommt, lasst uns mehr lernen! – Ein Interview von Martyna Słowik

Wir wollen mehr wissen – Ein Interview von Martyna Słowik 

Martyna Słowik: Man kann wohl behaupten, dass Stereotype gebräuchliche Gedankenmuster sind, die das Leben erleichtern, uns in einer gewissen Komfortsphäre halten sollen, generell, wenn wir an andere Nationen und Leute denken.

Prof. Jolanta Tambor: Nicht nur über Nationen. Wenn man von Stereotypen spricht, muss man zwei Auffassungen unterscheiden. Im allgemeinen Verständnis, das Sie zu vorsichtig beschrieben haben, sind Stereotype eher negative Überzeugungen, Vorurteile. Wenn ein Mensch zu einem anderen sagt „Du denkst in Stereotypen“, dann sagt er eigentlich „Du denkt schematisch und hast Vorurteile“. Doch sind Stereotype seit vielen Jahren ein Teil der wissenschaftlichen Forschung – neutrale Objekte, kann man sagen,. Ethnologie, Ethnolinguistik, Soziologie, Psychologie, beschäftigen sich unter anderem mit eben diesen Untersuchungen. In der Auffassung der Wissenschaft sind Stereotype bestimmte Merkmale von Menschen und Objekten, die man am häufigsten mit ihnen verbindet. Am Häufigsten wird über menschliche Stereotype geforscht. Die Kategorien, die sich am besten untersuchen lassen sind Nationalität, Geschlecht, im Rahmen des Geschlechts, besonders des weiblichen, muss man die Blondinen erwähnen, und Berufe. Das alles hat Platz in unserem sprachlichen Weltbild. Faszinierend ist, dass die Sprache in gewissem Maß Wirklichkeit herstellt, oder zumindest es erlaubt, sie auf eine bestimmte Art zu interpretieren.

MS: Reicht es, die Stereotype nur offenzulegen, oder muss man sie bekämpfen?

JT: Ich denke, dass man das Unwissen bekämpfen muss, denn es ist die Hauptquelle der Stereotype. Einzelne Impulse, Funken...

MS: Man sagt ja: Er hat läuten hören, weiß aber nicht, wo die Glocken hängen.

JT: Eben. Jemand hat etwas gehört, denkt sich etwas, aber nur die Hälfte. In unseren Gedankenmustern haben wir uns zum Beispiel gemerkt, das Leute aus dem sogenannten Osten schlauer sind als die hinter der westlichen Grenze. Ich mache mit meinen Studenten verschiedene Untersuchungen, und es zeigt sich, dass in dem Moment, in dem wir anfangen, ein Land kennenzulernen, die Traditionen, die Gewohnheiten, die Geschichte und auch die Menschen aus diesem Land, die Stereotype einer totalen Umwertung unterliegen. Das Projekt, das wir durchführen, 'Stereotype, aber nein!' besteht nicht nur darin, diese Stereotype zu untersuchen, aufzudecken und so zu versuchen, eine Veränderung zu erwirken, sondern vor allem darauf, jungen Menschen die Chance zu geben, sich gegenseitig kennenzulernen. Momentan bestehen alle vorbereitenden Aktivitäten für das Projekt darin, zu zeigen, was an diesen drei Ländern – Kasachstan, Deutschland und Polen – interessant ist; die reiche Geschichte zu erforschen, zu diskutieren. Ich denke, dass ein breiteres Wissen über verschiedene Länder die Grundlage für eine Demontage der Stereotype ist.

MS: Ich habe den Eindruck, dass ältere Menschen das größte Problem mit Stereotypen haben, die Generation meiner Großeltern, für die es schwierig ist, die gebräuchlichen Überzeugungen zu ändern, die weniger Lust haben, andere Ansichten kennenzulernen und ihre zu verändern. Die Welt ist geschrumpft, für meine Generation ist es nicht ungewöhnlich, für einen Austausch, ein Praktikum, zum Arbeiten in ein exotisches Land zu fahren. Das Kennenlernen von neuen Menschen, anderen Kulturen ist an der Tagesordnung. Aber von älteren Leuten höre ich immer noch: Schau, da sind Rumänen, Zigeuner, Schmutzfinken, Diebe”.

JT: Da ist was dran. In den Köpfen der jungen Leute sind die Stereotype schwächer, aber nur in Bezug auf die Länder, Nationen, Personen, die sie kennen. Ältere Menschen – natürlich nicht alle, das ist eine gewisse Verallgemeinerung – sind für gewöhnlich weniger aktiv, haben nicht mehr so viele Möglichkeiten, Kraft, oder auch nur Neugier, um etwas kennenzulernen. Ich wiederhole: die Quelle der Stereotype ist das Unwissen.

MS: Studenten wissen auch wenig?

JT: Ich habe zwei Studentinnen, die aus der Mongolei kommen. Sie haben eine Umfrage unter ihren Kommilitonen von der Philologischen Fakultät durchgeführt, in der sie danach fragten, was man vor allem mit der Mongolei verbindet. Die Studenten antworteten überwiegend, die Mongolei sei für sie mit barbarischen Überfällen verbunden. Vielleicht mit Steppe, Wildheit, Leere. Die einzige dortige historische Gestalt, an die sie dachten, aber die in nicht einmal dreißig Prozent der Antworten auftauchte, war Dschingis Khan. Nachdem wir polnische Geschichtsbücher untersucht hatten, zeigte sich, dass die jungen Leute nicht ohne Grund die Mongolei so wahrnehmen. In den Büchern geistern eben diese Stereotype über das Land herum. Man erinnert sich an die 'barbarischen Überfälle', daran, dass die 'Horde kam, brandschatzte, vergewaltigte'. Das Wort 'Horde', das als Bezeichnung für eine historische Kriegsformation neutral ist, weil diese Gruppe von Streitkräften so hieß, hat in seiner heutigen Bedeutung eine negative Konnotation. Das alles überschneidet sich. Die Umfrage zeigt, dass die Studenten nichts über das Land wissen. Im Fragebogen gab es auch Fragen z.B. darüber, ob die Mongolei größer oder kleiner als Polen sei. Die Befragten sagten später, sie haben „geraten“. Aber entschieden die Mehrheit behauptete, sie sei kleiner. Dabei ist sie doch fünfmal größer als Polen! Niemand konnte die Nachbarländer der Mongolei angeben, und das Land hat nur zwei, und zwar große: Russland und China.

Agnieszka Tambor: Genauso fielen die Ergebnisse der Umfrage über Kasachstan letztes Jahr aus. Sie deckte komplettes Unwissen auf. Wo befindet sich Kasachstan, welche Nachbarn hat es – in den Köpfen nur Leere zu diesem Thema. Wir entschieden uns für eine kleine Provokation und druckten im Test drei Bilder. Das erste stellte den Scharyn-Canyon in Kasachstan dar, einen wunderschönen Ort, das zweite eine verfallende Hütte (nicht in Kasachstan) und das dritte irgendetwas mit der Natur Verbundenes. Na, und achtzig Prozent der Personen antworteten auf die Frage, welches Bild Kasachstan darstelle, es sei die verfallende Hütte.

JT: Sehr viele der untersuchten Studenten wissen überhaupt nicht, dass es solche Staaten wie Kasachstan überhaupt gibt. Die Länder, die früher zur Sowjetunion gehörten, existieren im Bewusstsein der jungen Leute überhaupt nicht. Meine ersten Untersuchungen, die etwas völlig anderes betrafen, zeigten, dass von den hundert Personen, die im Saal waren, nicht eine wusste, dass ein Staat namens Moldau existiert... Ganz zu schweigen von Usbekistan, Turkmenistan, Armenien, etc. Die jungen Leute verbinden mit Kasachstan – und das auch nur manchmal – nur Borat. Sie können dazu nichts sagen, nur dass er lustig war, ein dummer Typ und aus Kasachstan. Doch die meisten wissen nicht einmal das.

MS: Das heißt, das Hauptziel des nächsten Teils von „Stereotype – aber nein!” ist, das Wissen über Kasachstan zu vertiefen?

AT: Auch. Aber nicht nur. In der Philologischen Fakultät der Schlesischen Universität haben wir immer mehr Studenten aus Kasachstan. Wir merken, dass es sich lohnt, die Stereotype zu zerschlagen, wenn auch nur dafür, dass Studenten aus anderen Ländern nicht auf dem Flur mit unangenehmen Kommentaren und falschen Meinungen zu zusammentreffen.

JT: Außerdem sind wir überzeugt, dass es sich lohnt, mehr über Kasachstan zu wissen. Es ist ein ungewöhnlich interessantes Land.

AT: Vor allem schön! Obwohl die Leute das kaum glauben können. Neulich hatte ich zwei ähnliche Erlebnisse, als ich Visaformalitäten erledigt habe. Eines beim Fotografen. Der Herr fragte mich, wohin ich fahre. Ich sagte: „Nach Kasachstan“. Er fragte mit riesiger Verwunderung: „Wieso denn dahin?“ Die zweite, ähnliche Situation passierte mir, als ich mit dem Taxi von der Kasachischen Botschaft zurück fuhr. Der Fahrer fragte, ob ich mal in Kasachstan gelebt habe, weil ich aus der Botschaft komme. Als ich sagte, dass ich dort nie gelebt habe und mir nur ein Visum besorgen wollte, um dort hinzufahren, fragte er eben auch: „Ja, aber warum nach Kasachstan?“ Ich sagte ihm, dass es sich lohne, das Land zu besuchen, weil es schön und vielfältig ist. Der Fahrer antwortete: „Wieso schön, dort gibt es doch nichts, nur Steppen, wilde Pferde und wilde Männer. Dort gibt es nirgends Internet und die Leute telefonieren über Satellitentelefone!“

JT: Momentan sind unsere Polnischlektorinnen in Kasachstan, in Almaty und Karaganda. Das ist ein Grund mehr, noch enger zusammenzuarbeiten. Wir möchten, dass die Polen möglichst viel über Kasachstan wissen. Und andersherum möchten die Lektorinnen, die dort arbeiten, dass die Kasachen möglichst viel über Polen erfahren. In Kasachstan sind die Polen eine einigermaßen große Minderheit. Sie machen nur einen Bruchteil des Prozentsatzes aus, aber umgelegt auf so ein großes Land und diese Anzahl von Menschen, ist das in absoluten Größen gerechnet eine ziemlich große Zahl. Und der Prozentsatz der Deutschen in Kasachstan ist ebenso hoch. Es hat sich gezeigt, dass sich die Mehrheit der Personen für diese drei Länder gleichzeitig interessierte. Es entstand also die Notwendigkeit, eine Initiative zu gründen, die die drei Länder verbindet.

AT: Bisher bereiten die Teilnehmer aus allen drei Ländern verschiedene Materialien vor, die auf der Internetseite des Projekts veröffentlicht werden.

MS: Worum geht es da?

AT: Um Sprache, Kultur... ganz unterschiedlich. Aber das Wichtigste sind die Interviews: mit Kasachen, die in Polen leben, in Deutschland, mit Polen, die in Kasachstan leben und in Deutschland... Naja, in jede Richtung. Die Zusammenfassung der Interviews, die beim Seminar in Almaty vorgestellt wurde, sind der wichtigste Punkt, ein Beitrag zu den weiteren Diskussionen. Die deutsch-polnischen und deutsch-kasachischen Beziehungen sind stark und weisen viele ähnliche Elemente auf. Deshalb hat die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit sich entschieden, das Projekt mitzufinanzieren.

MS: Gibt es in der kasachischen und der deutschen Sprache genauso viele Stereotype wie im Polnischen?

AT: Aus meinem Unterricht geht hervor, dass es von den Proportionen her mehr oder weniger gleich ist. Viel hängt von dem Ort ab, an dem wir uns befinden. Als wir gestern über deutsch-polnische Stereotype sprachen, saßen auch Personen aus der Mongolei, Kirgistan und der Ukraine im Saal. Gemeinsam kamen wir zu dem Ergebnis, dass in Polen die Stereotype über die Deutschen genauso stark sind, wie in ihren Ländern die Stereotype über Russland.

MS: Ist das von der Geographie abhängig?

JT: Von der Geographie und – noch mehr – von der Geschichte. Wir, die Polen, haben starke Stereotype über die Amerikaner, obwohl wir geografisch weit von ihnen entfernt sind. Über Belgien haben wir keine Stereotype, obwohl Belgien näher bei Polen liegt. Die Deutschen haben außerordentlich starke Stereotype über die Belgier und Holländer. Wir wissen über die Holländer nur, dass sie sommersprossig und rothaarig sind.

MS: Und Marihuana rauchen.

JT: Ja, und dass man überall Sex haben kann, sogar mitten auf der Straße.

MS: Kann man sagen, dass in jedem Stereotyp ein Körnchen Wahrheit enthalten ist?

JT: Das behauptet die Wissenschaft! Stereotype stützen sich auf irgendetwas, sie kommen irgendwoher. Und natürlich wissen wir, dass man nicht von der 'Volksseele' und einem 'Volkscharakter' reden und behaupten kann, die Leute einer bestimmten Nationalität seien alle gleich… aber ein Körnchen Wahrheit ist in ihnen doch. Sei es auch nur besagter Dschingis Khan. Wir können nicht generalisieren, behaupten, dass sein Wirken nur darin bestand, nach Europa zu ziehen und auf dem Weg dorthin ausschließlich zu zerstören, vernichten, vergewaltigen und zu töten, denn viele Asiaten sehen ihn als Volkshelden, dessen Rolle für sie vor allem darin bestand, dass er die dortigen Stämme vereinigte und einen starken Staat errichtete. Und auf der anderen Seite wissen wir, dass er tatsächlich vernichtete und tötete. Wir können vor dieser 'Wildheit' nicht fliehen, denn sie geht aus diesem Körnchen Wahrheit hervor.

Das Gespräch führte Martyna Słowik, Übersetzung von Marlena Breuer