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Quo vadis, Europa? - Julia Grzybowska

Während der Podiumsdiskussion „Antiliberale Konterrevolutionen – Wie verändern sie Europa?“ im Rahmen der Konferenz „Europa mit Zukunftsausblick“ ging es um Tendenzen, die in den vergangenen Jahren das politische Handeln in Europa motivieren. Die erste Geige spielt eindeutig der in Europa herrschende Populismus.

Adam Balcer, Politologe und Vertreter von WiseEUROPA, sagte, das Modell der extremsten Verhaltensweisen in der Europäischen Union müsse anhand von Polen und Ungarn analysiert werden. Beide Staaten gründeten die Gestaltung ihrer Landespolitik auf Populismus. Dieses Problem sei jedoch tiefergehend und betreffe die Definitionsgrundlage. Demokratie wird verbunden mit der Freiheit des Volkes. Die Bürger von sowohl Polen als auch Ungarn waren in letzter Zeit damit einverstanden, und zwar freiwillig, dass die Exekutive auf Kosten der Legislative stärker wird. Sie haben den Nationalismus angenommen, ähnlich wie in anderen Teilen Europas. Nationalismus kann als Homogenität der Kultur verstanden werden, was ethischer Nationalismus genannt wird, so wie ihn beispielsweise Marine Le Pen, Jarosław Kaczyński und Victor Orban präferieren, oder als ziviler Nationalismus, wie ihn Emmanuel Macron, der Präsident von Frankreich, bevorzugt. Dieses Modell sieht die Schaffung einer offenen Gesellschaft vor, die im Rahmen der Zugehörigkeit zu einem Volk ausschließlich die Respektierung von Gesetzen und nationalen Institutionen fordert. Die Streitigkeiten drehen sich deshalb um die Definition des Begriffes „Volk“. Ein so fundamentaler Konflikt beeinflusst die öffentliche Meinungsbildung. Diese Sichtweise bestätigte György Dalos, ein ungarischer Historiker und Schriftsteller. Er sagte, die regierende Partei Fidesz werde von etwa 64 Prozent der Bevölkerung unterstützt. Analysiert man diese Daten und die herrschende Regierungspolitik, „kann man kaum von einer klassischen Diktatur sprechen, aber auch nicht von einer klassischen Demokratie“.

Nilgün Arisan Eralp, Ökonomin und Leiterin des Center for EU Studies, TEPAV (The Economic Policy Research Foundation of Turkey), sagte, führend bei den antiliberalen Revolutionen sei derzeit die Türkei. Recep Tayyip Erdogan sei bisher als demokratischer Staatslenker wahrgenommen worden. Jedoch nutze er geschickt die gesellschaftlichen Stimmungen für die Gestaltung seiner eigenen Politik mithilfe der Religion. Da er somit Unterstützung in der Gesellschaft bekommt, strebe Erdogan in Richtung Autoritarismus unter Beibehaltung kapitalistischer Elemente. Eine auf Kapitalismus basierende Wirtschaft sei unerlässlich für das Funktionieren der Türkei, deren Haupthandelspartner die Europäische Union bleibt. Charles Gati, Politologe, Dozent für Europäische und Euroasiatische Studien an der Johns Hopkins Universität in Baltimore im US-Bundesstaat Maryland, zeigte, warum die Idee der Demokratie in den letzten Jahren an Popularität verliert. Zu ihnen gehörten unter anderem das Ausbleiben von schnellem Handeln der Regierungen und Korruptheit der politischen Eliten, von denen man fast täglich aus den immer besser entwickelten Medien, meistens Internetmedien, erfährt.

Irene Hahn-Fuhr, Politologin, Direktorin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Warschau, Moderatorin der Konferenz, öffnete die Diskussion für das Publikum, aus dem die Frage kam, wie Aktivisten auf die aktuellen Tendenzen in Europa Einfluss nehmen können. Nilgün Arisan Eralp sagte, sie könnten ausschließlich mit den Mitteln und Wegen arbeiten, die für sie innerhalb des jeweiligen nationalen Systems zur Verfügung stehen. Was aber, wenn ein System keinen breiten Fächer an rechtlichen Möglichkeiten für Nichtregierungsorganisationen vorsieht? In diesem Zusammenhang fügte György Dalos hinzu, dass „Diktaturen untergehen, weil sie Fehler machen, nicht weil sie verbrecherisch sind“.

Staaten wie Polen und Ungarn müssen angesichts eines „Europas der zwei Geschwindigkeiten“ Maßnahmen ergreifen, um nicht außerhalb des Kerns der Europäischen Union zu bleiben, der Entscheidungen fällt. Unerlässlich erweise es sich, zu diesem Zwecke die Idee der Zivilgesellschaft auszubauen. Die EU strebe danach und ermögliche den Bürgern der Mitgliedsländer auf den Entscheidungsprozess Einfluss zu nehmen durch das Einreichen von Petitionen. Wenn die Bewohner merken, dass ihre Stimme etwas bewirkt, dann werden sie europäische Werte stärken und vielleicht den Populismus überwinden.

Julia Grzybowska