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„Dialog-Pheniben” über das vergessenes Geschichtskapitel der Sinti und Roma – ein Bericht von Michał Mazur

Die dramatischen Ereignisse der Vergangenheit kehren wie ein Echo zurück und zwingen uns, über die Gegenwart nachzudenken. Oft stellt sich heraus, dass es sich bei dem, was wir für ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte hielten, gar nicht um endgültig geklärte und gelöste Fragen handelt. Es gibt Tage, an denen Geschichte und Gegenwart zusammenprallen und es unmöglich ist, davor wegzulaufen. Versucht man es dennoch, sind diese Fluchtversuche meistenteils Zeugnis nicht aufgearbeiteter Dämonen der Vergangenheit…

Die Dezemberausgabe der Quartalszeitschrift „Dialog-Pheniben", die von dem Verband der Roma in Polen herausgegeben wird, nimmt sich einer dieser „unbequemen“ Kapitel der Geschichte an. Die Rede ist von der Exterminierung der Sinti und Roma, die die Regierung der Bundesrepublik Deutschland noch lange nach dem Krieg nicht als Opfer der Naziverbrechen anerkennen wollte. Erst die Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts brachten einen Wandel dieser Situation. Symbol für die Verdrängung dieses Teils der Vergangenheit der Sinti und Roma aus der gemeinsamen Erinnerung ist die Geschichte des Mahnmahls für die während des Zweiten Weltkrieges ermordeten Sinti und Roma. Die Autoren des Magazins „Dialog-Pheniben" machen sich darüber Gedanken, wie es möglich ist, dass ein so bedeutsamer Teil der deutschen Geschichte konsequent marginalisiert und an den Rand gedrängt werden konnte, und dass die Enthüllung des Mahnmals für Sinti und Roma in Berlin nicht viel am Denken über die Vernichtung geändert hat, denn Sinti und Roma werden noch immer als eine Art Anhang zur historischen Narrativität der Naziverbrechen an den Juden wahrgenommen. Das Mahnmal selbst steht wie im Schatten anderer Denkmäler, die Opfern gedenken.

Die Probleme mit der gemeinsamen historischen Erinnerung, mit denen die Deutschen kämpfen, zeigen sich auch in den polnischen Realien. Aus dem Interview mit Beata Chomątowska, der Autorin des Buches „Stacja Muranów" [dt. „Bahnhof Muranów", Amn. d. Üb.], erfahren wir, wie die Geschichte des jüdischen Stadtbezirks Warschaus verschwiegen und aus dem Gedächtnis verdrängt wurde. In dem Gespräch „Historia Polski zamiast historii Polaków" [dt. „Geschichte Polens statt Geschichte der Polen", Amn. d. Üb.] hingegen sprechen Soziologen und Historiker (unter anderem Dr. Sławomir Kapralski  und Dr. Elżbieta Janicka) darüber, warum die polnische Gesellschaft bei der Entwicklung ihre Identität noch immer nicht ethnische und kulturelle Minderheiten berücksichtigt. Für die polnische historische Narrativität ist noch immer der Warschauer Aufstand wichtiger als der Aufstand im Warschauer Getto, und Minderheiten lässt man nur zu Wort kommen, wenn sie das Selbstbild der Mehrheit nicht gefährden. Die Geschichte des Mahnmals für Sinti und Roma in Berlin ist also nur der Gipfel des Eisberges, der signalisiert, dass sich eine unaufgearbeitete Vergangenheit auch auf unsere Wahrnehmung der Gegenwart auswirkt.

Außer historisch-gesellschaftlichen Fragen bringt „Dialog-Pheniben" auch die Kultur der Sinti und Roma nahe, indem er Roma-Künstler und -Kulturschaffende porträtiert. In der Dezemberausgabe können Sie über die neuste Platte von Goran Bregović „Champagne for Gypsies" lesen, die ein regelrechtes Manifest ist gegen die Verfolgung von Roma. Künstler aus verschiedenen Teilen Europas haben sich zusammengetan, um mit gemeinsamer Stimme einen Protest-Song gegen Diskriminierung zu singen. Das Phänomen der Zigeunermusik wird in einem Auszug aus dem Buch von Anna G. Piotrkowska aufgegriffen, einer Musikwissenschaftlerin, die sich mit den Wurzeln der Zigeunermusik befasst und erläutert, worin ihre Besonderheit besteht. Anna Aro hingegen porträtiert den Maler Otto Müller, der zeitweise mit Sinti und Roma gelebt und Szenen aus ihrem Leben auf Gemälden verewigt hat. Erwähnenswert ist auch die Reportage über obdachlose Sinti und Roma, die als Touristenführer in London arbeiten.

Diese Annäherung an die Kultur der Sinti und Roma, an Menschen, die mit Kunst und gesellschaftlichem Engagement zu tun haben, hilft, daran zu erinnern, dass auch (oder besonders) „die Anderen“, die in unserem Umkreis eine Minderheit bilden, viel zu bieten haben. Und dass beide Seiten nur dann viel voneinander lernen können, wenn sie sich gegenseitig akzeptieren. Man muss den ersten Schritt tun und versuchen, die Geschichte der Anderen kennen und verstehen zu lernen, die schließlich einen integralen Teil unserer eigenen Geschichte bildet. Für den Anfang bedeutet das, die Quartalszeitschrift „Dialog-Pheniben" zur Hand zu nehmen.

Die 8. Ausgabe (Oktober-November-Dezember 2012) der Quartalszeitschrift „Dialog-Pheniben" wurde mit finanzieller Unterstützung der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit herausgegeben.

[1] Dialog-pheniben, Nr. 8, 2012, S. 47. 

Michał Mazur