drucken

20 Jahre EU-Erweiterung: der Fall Polen und die neue Nähe zu Deutschland

Im Vorfeld des 20. Jahrestages der EU-Erweiterung vom 1. Mai 2004 haben wir im Rahmen des Gesprächskreises Polen sowie bei einer Leserveranstaltung des Tagesspiegels Bilanz gezogen, den aktuellen Zustand der Europäischen Union kritisch beleuchtet sowie neue Herausforderungen und Zukunftsperspektiven - darunter die nächste bevorstehende Erweiterungsrunde - diskutiert.

Am 23. April 2024 traf sich der Gesprächskreis Polen traditionell in den Räumen der DGAP e.V. und ausnahmsweise in einem erweiterten Workshop-Format, um das gemeinsame Projekt „Europa“ aus deutscher und polnischer Perspektive (östlich) in vertrauensvoller Runde weiterzudenken.

In zwei intensiven Podiumsdiskussionen suchten Expertinnen und Experten aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft Antworten auf die dringenden Fragen rund um die (bedrohte) Sicherheit und Zukunftsfähigkeit der EU. Welches Europa wollen wir? Wie wollen wir uns gemeinsam geopolitisch positionieren und für die Zukunft wappnen? Welche Rolle können Deutschland und Polen als Wegbegleiter der Ukraine im Beitrittsprozess und für eine neue EU-Ostpolitik spielen?

Deutlich wurde, dass es trotz aller Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden EU-Partnern in einzelnen Politikbereichen gerade angesichts der Bedrohung aus Russland und der brüchig gewordenen Beziehung zu den USA wichtig ist, innerhalb der EU gemeinsame gute Kompromisse zu finden, um Europa gemeinsam zu stärken.

Für die interessanten Diskussionsbeiträge und Einblicke danken wir insbesondere: Karolina Wigura von der Stiftung Kultur Liberalna, Barbara Lippert von der Stiftung Wissenschaft und Politik, Sybille Sorg vom Auswärtigen Amt, dem Bundestagsabgeordneten und SPD-Außenpolitiker Axel Schäfer, Laurynas Vaičiūnas vom Jan-Nowak-Jeziorański College of Eastern Europe sowie Agnieszka Walter-Drop, die das Europäische Parlament am Tagungstisch repräsentierte.

Am 25. April 2024 organisierte der Tagesspiegel mit Unterstützung der SdpZ eine öffentliche Podiumsdiskussion zur Bilanzierung der 20-jährigen EU-Mitgliedschaft Polens, die sich an die breite Leserschaft der Zeitung richtete und auch viele in Berlin ansässige Akteure der deutsch-polnischen Beziehungen anzog. Insgesamt 160 Gäste folgten vor Ort dem Expertenaustausch unter der Moderation von Christoph von Marschall, während die Übertragung im Live-Stream allen Daheimgebliebenen die Teilnahme virtuell ermöglichte.

Viele Themen wurden an dem Abend gestreift bei der Beantwortung von drei Leitfragen: Wie hat der EU-Beitritt Polen verändert? Wie haben Polen und die neuen Mitgliedstaaten die EU verändert? Welche Auswirkungen hatte die Aufnahme Polens in die EU für die deutsch-polnischen Beziehungen? 

Irene Hahn-Fuhr, SdpZ-Vorstandsmitglied und Geschäftsführerin der Denkfabrik „LibMod - Zentrum Liberale Moderne“ sprach von den Ambivalenzen, die nach wie vor das Verhältnis prägen, trotz aller politischer Errungenschaften. So erinnerte sie in dem Zusammenhang, dass Deutschland sich auf der einen Seite als „Anwalt“ Polens auf dem Weg in die EU profiliert habe, andererseits hat vor allem Deutschland Polen noch bis 2011 von der vollwertigen EU-Mitgliedschaft abgehalten, indem es die treibende Kraft hinter dem 2+3+2-Modell war, welches Polen erst nach 7 Jahren die Arbeitnehmerfreizügigkeit ermöglichte. Wie wir heute wissen, hat die EU-Erweiterung den deutschen Arbeitsmarkt wie auch das Wirtschaftswachstum entgegen vieler Befürchtungen belebt.

Die EU-Erweiterung habe die deutsch-polnischen Beziehungen dank der neuen Nähe und immensem Kooperationspotenzial eindeutig vertieft, stellte der Polen-Experte Kai-Olaf Lang fest, und plädierte angesichts vieler Reibungspunkte und Meinungsverschiedenheiten für Gelassenheit und eine Kultur des konstruktiven Konfliktmanagements.

Verändert habe sich im Laufe der letzten 20 Jahre auch das Deutschlandbild in Polen, was die stellvertretende Direktorin des Deutschen Polen-Instituts Agnieszka Łada-Konefał anhand der Ergebnisse des Deutsch-Polnischen Barometers darlegte. Man hätte mittlerweile ein realistisches, kein idealistisches Bild mehr vom westlichen Nachbarn.

Das Podium wurde schließlich für Wortbeiträge renommierter Gäste aus dem Publikum geöffnet, unter denen auch der Polen-Beauftragte der Bundesregierung Dietmar Nietan war. Mit Blick auf die deutsch-polnischen Regierungskonsultationen am 2. Juli zeigte sich der engagierte Brückenbauer zuversichtlich, dass es gelingen werde, den Aufbruch in den deutsch-polnischen Beziehungen mit konkreten Initiativen im Rahmen eines Aktionsplans gemeinsam zu verwirklichen. Er sprach sich dabei dafür aus, die vorhandenen und bewährten Institutionen der Zivilgesellschaft wie die SdpZ zu stärken, um die ambitionierten Vorhaben für eine Wiederannäherung zwischen Polen und Deutschland auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu verankern.

Der Ko-Vorsitzende des Stiftungsrates Markus Meckel erinnerte in seinem Kommentar an das Jahr 1989 und die Friedliche Revolution, die Teil einer mitteleuropäischen Revolution gewesen sei und Deutschland und Polen im Bereich der Erinnerungskultur zusammenführen könnte und sollte. Hier gelte es neue Akzente zu setzen - auch mit Blick auf das Gedenken an tragische und leidvolle Ereignisse wie den 85. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes.

Aus dem Publikum gab es noch einige Wortmeldungen, bei denen auch aktuelle und ernste Themen wie die Sicherheit Polens angesichts der Kriegsgefahr zur Sprache kamen.

Insgesamt war die Stimmung jedoch feierlich und zuversichtlich, denn die erste große EU-Erweiterung von 2004 gilt ohne Zweifel rückblickend als Erfolgsgeschichte und Polens neue Regierung möchte diese als neues Kraftzentrum in der EU und Partner Deutschlands auf Augenhöhe fortschreiben.

Eine lesenswerte Zusammenfassung der Podiumsdiskussion im Tagesspiegel von Aleksandra Lebedowicz finden Sie hier: https://bit.ly/3wp2HUY („Polen wollte vom Spielfeld zum Spieler werden“)
Die Aufzeichnung der Veranstaltung finden Sie unter dem Link: https://www.youtube.com/watch?v=aNx89N0oUb4

Der Tagesspiegel veröffentlichte am 30. April 2024 zudem eine Sonderbeilage zu „20 Jahre EU-Erweiterung am Beispiel Polens“, die unten als PDF-Datei abrufbar ist.

Wir danken dem Tagesspiegel für die gelungene Zusammenarbeit und reibungslose Organisation!
Die Fotos verdanken wir Antonina Polukhina, die den Abend mit der Kamera begleitete. 

Text: Karolina Fuhrmann


Zum Downloaden